CiceroOWL hat geschrieben:VII. Zurück zu einem funktionalen Unternehmensbegriff im Ganzen
Entsprechend den Regelungen des europäischen Wettbewerbs-rechts wäre eine Bewertung des Handelns von Krankenkassen nach Maßgabe des Art. 106 AEUV vorzugswürdig60. Das setzt ihre Unternehmenseigenschaft voraus. Betrachtet man das Sozialrecht als Teil des Wirtschaftsrechts61, wäre –entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in seinem Schlussantrag ein einheitliches Verständnis des Unternehmensbegriffs geboten und Krankenkassen in Abhängigkeit von der kon-kreten Handlung auch als Unternehmen anzusehen. Nach der bisherigen Rechtsprechung ist das jedoch nicht zu erwarten. Die Entwicklung, die sich mit dem Schlussantrag des Gene-ralanwalts in Sachen BKK Mobil Oil andeutet, zwingt gleichohl zu einer neuen Betrachtung des wirtschaftlichen Han¬delns von Krankenkassen. Dabei ist einerseits die bisherige Rechtsprechung heranzuziehen und andererseits wieder zu einem engen Ausnahmenverständnis zurückzukehren, um Zweck und Ziel des Gemeinschaftsrechts zu entsprechen. In einer Zusammenschau aller Merkmale sei eine Einrichtung dann nicht als Unternehmen anzusehen, wenn sie am System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaates teilnimmt, wenn sie Gesetze nur anwendet, keine Möglichkeit hat, die Höhe ih¬rer Beiträge zu beeinflussen und weder die Verwendung der Mittel noch den Umfang der von ihnen angebotenen Leistun¬gen zu bestimmen62. Das entscheidende Merkmal, das alle diese Voraussetzung miteinander verbindet, ist der Vollzug be-stehender Gesetze. Die mangelnde Beeinflussung von Leis-tungsumfang und Beitragshöhe sind nur Folge des Vollzugs vorgegebener Regelungen. Dort, wo eine Einrichtung Gesetze zu vollziehen hat, wo keine Handlungsspielräume für sie beste¬hen, kann sie auch nicht im Wettbewerb handeln63.
Sind Ausnahmen im Europäischen Recht eng auszule-gen, so kann die Ausnahme vom funktionalen Unternehmens begriff selbst wieder nur funktional sein. Es muss also darauf ankommen, ob die Einrichtung bei ihrer konkreten Handlung Gesetze vollzieht. Das hätte in Sachen FENIN wohl zu einem anderen Ausgang des Rechtsstreits geführt. Problematisch bleibt zwar auch bei diesem Ansatz das Verhältnis zu Art. 106 AEUV und die Verantwortung der Mitgliedstaaten, die den Ein-richtungen wettbewerbswidriges Handeln gestatten oder for-cieren64. Aber es wäre ein Anfang, Abstand zu nehmen vom eingeschlagenen Weg eines wettbewerbsrechtlichen Sonderbe-reichs für Krankenkassen hin zu einem funktionalen Unterneh-mensverständnis im Ganzen, das die Anwendung des europä-ischen Wettbewerbsrechts in Einklang mit den Zielen des Gemeinschaftsrechts zulässt.
IX. Zusammenfassung
In die Diskussion um Krankenkassen als Unternehmen im Sinne des Europäischen Wettbewerbsrechts scheint Bewegung zu kommen. Grund dafür ist nicht nur die anhaltende Kritik an der Rechtsprechung des EuGH, sondern auch die zu erwar-tende Entscheidung in der Rechtssache BKK Mobil Oil. In sei-nem Schlussantrag spricht sich der Generalanwalt für ein ein-heitliches Verständnis von Unternehmen und Gewerbetrei-benden im Sinne des Europäischen Wirtschaftsrechts aus. Schließt sich der EuGH der Auffassung des Generalanwalts an, könnte der Wettbewerb im System der GKV nicht mehr nur als bloßes Instrument übergeordneter sozialer Zwecke angesehen werden, sondern würde nach Maßgabe der Art. 101 ff. AEUV geschützt.
Es ist zu hoffen, dass der EuGH die Rechtssache BKK Mobil Oil, ähnlich wie der Generalanwalt zu einer allgemeinen Klarstellung nutzt, ob insbesondere vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden unternehmerischen Handlungsfreiheit, Kran-kenkassen im Sinne des europäischen Wirtschaftsrechts allein wegen der ihnen obliegenden öffentlichen Aufgabe einen wettbewerbsfreien Sonderbereich bilden sollen. Es könnte ein erster Schritt zurück zu einem auch seine Ausnahmen erfas-senden funktionalen Unternehmensbegriff sein. Das würde zu-gleich aufzeigen, wie weit Ausnahmen vom europäischen Wettbewerbsrecht reichen können und dürfen.
Allerdings wird die Entwicklung eines europäischen Gesundheitsmarktes unter Einbeziehung der öffentlichen Gesundheitsversorgung auch ohne die Anwendung der Art. 101 ff. AEUV fortschreiten. Die Begleitung und Kontrolle durch das europäische Wettbewerbsrecht wäre jedoch wünschens¬wert; die öffentliche Gesundheitsversorgung würde stärker in die Integration des Gemeinsamen Marktes einbezogen und der Wettbewerb auch auf europäischer Ebene geschützt. Nur ein geschützter Wettbewerb kann jene Funktionen im System der öffentlichen Gesundheitsversorgung erfüllen, wegen derer er eingeführt wurde.
Aus: Mögliche Auswirkungen der zu
erwartenden EuGH-Entscheidung
in Sachen BKK Mobil Oil (C-59/12)
auf die Anwendung der Art. 101 ff.
AEUV auf Krankenkassen
Aus Zesar 09/2013 358 ff.
spiegel.de/wirtschaft/soziales/eugh-urteil-bkk-mobil-oil-muss-sich-an-wettbewerbsregeln-halten-a-925870.html
medien-internet-und-recht.de/volltext.php?mir_dok_id=2500
krankenkassen-direkt.de/news/news.pl?val=1381345122&news=337966790
Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der EU-Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Rechtsstreit: BKK Mobil Oil / Wettbewerbszentrale
BGH-Verfahren, Az. C-59/12
Mal für alle die es intressiert