Krankengeld-Falle - setzt sich Recht durch?

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Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 06.08.2017, 16:31

.
Ergänzend zu

„10 Jahre Krankengeld-Falle und der Deutsche Juristentag e. V.“

sowie zur Frage

"einheitliche Rechtsfortbildung" oder "organisierte Rechtsbeugung"

http://www.krankenkassenforum.de/10-jah ... ght=#85608

wieder zurück zur aktuellen Rechtsprechung des BSG mit Auswirkungen auf die gesamte
Sozialgerichtsbarkeit:

Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden, die Richter sind unabhängig und (nur) dem
Gesetz unterworfen.

Dieser Gesetzesbindung entzieht sich die Krankengeld-„Recht“sprechung des Bundessozialgerichts
bisher konsequent. Der bis 31.12.2014 zuständige 1. Senat begab sich bereits vor Jahren aus der
Rolle des Normanwenders in die einer abweichende Normen setzenden Instanz. Seine Interpretation
des § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V a. F. (bis 22.07.2015 - https://www.buzer.de/gesetz/2497/al47969-0.htm),
stellt den klaren Singular-Wortlaut des Gesetzestextes sowie den Zusammenhang mit nur einem
Karenztag (http://up.picr.de/21025787ot.pdf) hintan und geht stattdessen von Karenztagen zu
jeder Arbeitsunfähigkeits-Folgebescheinigung aus.

Diese Konstruktions-„Recht“sprechung findet keinen Widerhall im Gesetz, was der Gesetzgeber
im Zusammenhang mit der Gesetzesänderung ab 23.07.2015 deutlich missbilligte. Trotzdem zeigt
auch der seit 01.01.2015 zuständige 3. BSG-Senat bisher keinen Weg aus der Misere auf. Mit seinen
Ausführungen im Terminbericht zum Urteil vom 11.05.2017, B 3 KR 22/15 R, ignorierte auch er die
gesetzgeberische Grundentscheidung
http://juris.bundessozialgericht.de/cgi ... 7&nr=14583

Anstatt den eindeutigen Willen des Gesetzgebers durch Befolgung anerkannter Methoden der
Gesetzesauslegung zuverlässig zur Geltung zu bringen, ahmt der 3. Senat das Beispiel des
1. Senats bisher nach und setzt den unzulässigen Eingriff in die Kompetenzen des demo-
kratisch legitimierten Gesetzgebers mit in Nuancen abgewandelten Konstruktionen fort:

Bild

Das schriftliche Urteil ist demnächst zu erwarten. Die Spannung steigt.
.

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 16.08.2017, 10:28

.
Oder ist alles ganz anders?

Vielleicht hat der 3. BSG-Senat bei der schriftlichen Begründung seines Urteils vom 11.05.2017
das Konstruktionsgeflecht des 1. Senats zum Krankengeld durchschaut und bemerkt, dass er zur
Klage-Stattgabe nur kommen konnte, wenn er der Rechtsprechung des 16. Senats des LSG NRW
vom 17.07.2014 sowie den Krankengeld-Urteilen der Sozialgerichte Speyer und Mainz – auch
nach dem 16.12.2014 – folgt und andernfalls eine Rückverweisung an das LSG Rheinland-
Pfalz erforderlich gewesen wäre.

In diesem Fall relativiert sich, dass das schriftliche Urteil zur Entscheidung vom 11.05.2017 noch
aussteht, während der 1. BSG-Senat zwei schriftliche Urteile zu Entscheidungen vom 23.05.2017
bereits am 11.07.2017 veröffentlichte.
.

Anton Butz
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das schriftliche Urteil

Beitrag von Anton Butz » 11.09.2017, 19:21

.
4 Monate – ohne roten Text im roten Rahmen:

Bild

http://juris.bundessozialgericht.de/cgi ... bsg&Art=tm

Die Korrektur der langjährigen „BSG-Krankengeld-Fallen-‚Recht’sprechung“, zuletzt
vom 16.12.2014, dauert …

Gut Ding will Weile haben!
.

Anton Butz
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schriftl. BSG-Urteil vom 11.05.2017, B 3 KR 22/15 R

Beitrag von Anton Butz » 28.09.2017, 10:59

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Dank A. vom SKGF,

(kurz nach der Wahl) hier schon mal das schriftl. BSG-Urteil vom 11.05.2017, B 3 KR 22/15 R:

Bild
​
Setzt sich nun Recht durch oder setzt der 3. BSG-Senat die fiktiv-konstruierte Krankengeld-„Recht“sprechung des 1. BSG-Senats unter Vorsitz des früheren BSG-Präsidenten Peter Masuch einfach fort? Diese Frage stellt sich seit Ende 2014.
Die Eingangsfrage hier http://www.krankenkassenforum.de/neue-k ... ght=#84060 kann ab sofort beantwortet werden.

Wer traut sich?
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Czauderna
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Beitrag von Czauderna » 28.09.2017, 15:54

Hallo,
klar, ich trau mich - ein gutes Urteil und eine sehr gute Begründung, und obwohl es um einen Zeitraum aus 2013 geht wurde meiner Meinung nach schon die neue Rechtsprechung berücksichtigt wonach, wenn es nur am Arzt liegt, dass die Folgemeldung nicht rechtzeitig ausgestellt wurde, der Krankengeldanspruch besteht. Außerdem habe ich in dem Urteil mehrfach den Begriff "ausnahmsweise" gelesen, also, alles gut - eine Grundsatzentscheidung sehe ich in dem Urteil eigentlich nicht.
Gruss
Czauderna

Anton Butz
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"illegale BSG-Krankengeld-Falle"

Beitrag von Anton Butz » 29.09.2017, 07:55

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Ja, die Entscheidung des Einzelfalles ist - ausnahmsweise -
in Ordnung. Doch die Urteilsbegründung zeigt die Realität
unseres sog. sozialen Rechtsstaats, u. a.:

Die illegale BSG-Krankengeld-Falle gehört zu Deutschland.
.

Anton Butz
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BSG, 11.05.2017 - B 3 KR 22/15 R

Beitrag von Anton Butz » 30.09.2017, 08:46

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Inzwischen gibt es auch zwei – anonyme – Volltext-Veröffentlichungen:

http://juris.bundessozialgericht.de/cgi ... n&nr=14717

https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/es ... &id=195595

Die zweite bietet Vorteile beim Blick hinter die Kulissen. Aber Vorsicht!
.

Anton Butz
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BSG-Urteil vom 11.05.2017, B 3 KR 22/15 R

Beitrag von Anton Butz » 01.10.2017, 17:35

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Erste Einschätzung:

Das Urteil ist im Ergebnis richtig.
Die Begründung lässt allerdings schwerwiegende polare Störungen erkennen.
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Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 02.10.2017, 09:30

.
Der seit 01.01.2015 für Krankengeld zuständige 3. Senat hat es bei seiner
ersten Krankengeld-Entscheidung nach 2 ½ Jahren nicht geschafft, die Recht-
sprechung seines Vorsitzenden Dr. K r e t s c h m e r zusammen mit dem Vor-
sitzenden vom 26.06.2007 (und jetzigen Präsidenten des BSG) Prof. Dr. S c h l e g e l
und dem damaligen Richter (und jetzigem Vorsitzenden des 1. BSG-Senats) Prof.
Dr. H a u c k unvoreingenommen zu hinterfragen und den damals eindeutigen
Fehler nun zu korrigieren. Im Gegenteil.
.

Anton Butz
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Das Urteil ist "abwegig"!

Beitrag von Anton Butz » 03.10.2017, 10:41

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Das nach 2 ½ Jahren erste Krankengeld-Urteil des dafür seit 01.01.2015 zuständigen 3. BSG-Senats
kommt ohne Rechtsauslegung zum entscheidenden Punkt aus. Zur Darstellung der gesetzlichen (Sin-
gular-) Formulierung

Nach § 46 S 1 SGB V aF entsteht der Anspruch auf Krg "von dem Tag an, der auf den Tag der
ärztlichen Feststellung der AU folgt"


beschränkt sich das BSG auf die Folgerung:

Davon ausgehend musste der Klägerin für die Gewährung von Krg ab 4.1.2013 grundsätzlich
AU bereits am 3.1.2013 für den Folgetag ärztlich bescheinigt worden sein, was tatsächlich
nicht der Fall war.


Das Gericht unterließ jede Überlegung dazu, dass die Arbeitsunfähigkeit am 23.11.2012 festgestellt /
bescheinigt wurde und der Anspruch auf Krankengeld bereits am 24.11.2012 entstanden ist.

Die – wortlose – Unterstellung, dass das Krankengeld aus mehreren Ansprüchen besteht und dieselbe
Arbeitsunfähigkeit mehrfach festgestellt werden muss, entbehrt jeder rechtlichen Basis, ist weder
mit Sinn und Zweck der (Singular-) Regelung noch mit der Entstehungsgeschichte der Normen zu
begründen.
.

Anton Butz
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nichts sehen, nichts hören ...

Beitrag von Anton Butz » 04.10.2017, 07:56

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Dies ist durch die Rechtsprechung der Sozialgerichte Speyer und Mainz offensichtlich:

SG Mainz, 25.07.2016, S 3 KR 428/15 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 11.07.2016, S 19 KR 599/14 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 11.07.2016, S 19 KR 369/14 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Mainz, 21.03.2016, S 3 KR 255/14 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 30.11.2015, S 19 KR 160/15 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 30.11.2015, S 19 KR 409/14 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Mainz, 31.08.2015, S 3 KR 405/13 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 22.05.2015, S 19 KR 959/13 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 20.03.2015, S 19 KR 969/13 http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

SG Speyer, 03.03.2015, S 19 KR 10/15 ER http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/p ... doc.part=L

Diese überzeugende Kritik an der Krankengeld-Rechtsprechung des 1. BSG-Senates bis Ende 2014 kann dem
3. BSG-Senat nicht verborgen geblieben sein. Dafür sind die Formulierungen zu spektakulär, z. B.
im Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 31.08.2015, S 3 KR 405/13:


Bild

.

Anton Butz
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sog. Papageien-Rechtsprechung ...

Beitrag von Anton Butz » 05.10.2017, 09:13

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Der 3. BSG-Senat ist darüber ebenso hinweggegangen wie über die in seinem 6-zeiligen Klammerzusatz
angedeutete Kritik

(„ … kritisch dazu zB Knispel, NZS 2014, 561, 564 ff; Sonnhoff in jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016,
§ 44 RdNr 31 ff und § 46 RdNr 28 ff mit Nachweisen aus der instanzgerichtlichen Rspr“)


an der ständigen Rechtsprechung des 1. Senats. Der 3. Senat hält daran – ohne eigene Prüfung – fest:

Es obliegt dem Versicherten, zur Vermeidung einer Unterbrechung von Krg-Ansprüchen (und
zum Erhalt eines durchgehenden umfassenden Krankenversicherungsschutzes) für eine Folge-
AU-Bescheinigung spätestens am letzten Tag der zuvor bescheinigten AU Sorge zu tragen.


Diese mit dem Gesetzeswortlaut und mit der Rechtsentwicklung unvereinbare Rechtsauslegung des 1. BSG-
Senats lässt sich nicht mit der Phrase rechtfertigen:

„Sinn und Zweck alldessen ist es - wie schon in der Entstehungsgeschichte der Normen zum Aus-
druck kommt -, beim Krg Missbrauch und praktische Schwierigkeiten zu vermeiden, zu denen die
nachträgliche Behauptung der AU und deren rückwirkende Bescheinigung beitragen könnten.“


Das dazu angeführte Beispiel

Deshalb kann zB grundsätzlich ein Versicherter, der das Ende der bescheinigten AU akzeptiert
und über Monate hinweg Leistungen wegen Arbeitslosigkeit bezieht, die er bei AU nicht hätte
erhalten dürfen, nicht mehr mit der nachträglichen Behauptung gehört werden, er sei in der
gesamten Zeit zu Unrecht als arbeitslos statt richtigerweise als arbeitsunfähig behandelt
worden.


verdeutlicht den Unsinn und die rechtlich-argumentative Hilflosigkeit des 3. BSG-Senats.

Die Folgen der „illegalen BSG-Krankengeld-Falle“ waren nie Sinn und Zweck des Krankengeld-
Rechts, weder früher nach der RVO und erst recht nicht nach den Sozialgesetzbüchern I, V und X.
.

Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 06.10.2017, 09:06

.
Bei soviel Theorie zur "illegalen BSG-Krankengeld-Falle" zwischendurch mal zur
Praxis der "unverhältnismäßigen gesetzlichen Krankengeld-Falle" (ab 23.07.2015):

https://www.swr.de/forum/read.php?2,835 ... #msg-86988
.

Anton Butz
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nur Geduld ...

Beitrag von Anton Butz » 08.10.2017, 10:12

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... wir dürfen ziemlich sicher sein:

Auch im Krankengeld-Fallen-Fall FiatLux u. a. sind (weitere) – restriktive – Ausnahmen
von der – strikten – Anwendung der (be-) ständigen („Recht“sprechung zur) Sozialrechts-
Guillotine
durchaus drin.

Das braucht eben viel Geduld, vielleicht bis alle Konstrukteure von damals, auch Prof. Dr.
Ernst H a u c k, Dr. Hans-Jürgen K r e t s c h m e r und Prof. Dr. Rainer S c h l e g e l, im
Ruhestand sind oder Frau Dr. Angela Merkel mal wieder einen Alleingang macht und die
Geschichte zu“recht“rückt.
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Anton Butz
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Beitrag von Anton Butz » 24.10.2017, 08:56

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Der schleichende Verfall des BSG-Krankengeld-Fallen-Unsinns ist nicht mehr aufzuhalten:

vgl. rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15.09.2017, S 51 KR 3987/15 zu
§ 2 Abs. 2 SGB I https://dejure.org/gesetze/SGB_I/2.html
§ 15 Abs. 2 SGB I https://dejure.org/gesetze/SGB_I/15.html

http://www.gerichtsentscheidungen.berli ... focuspoint
.

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