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von vlac » 24.07.2012, 11:13
Hallo,
ich hatte mich bereits in einem anderen Thread dazu geäußert, wo jemand anmerkte, dass wenn das so sein solle, wie Macht's Sinn es dort beschrieb, dann ja die Judikative die Exekutive schlagen würde. Ich habe dazu angemerkt, dass das tatsächlich so ist - dass die Judikative die Exekutive schlägt. Hier möchte ich dem gerne anfügen: Deutschland ist ein Rechtsstaat, eben weil die Judikative im Zweifelsfall das letzte Wort, und damit auch die Möglichkeit hat, Handlungen der Exekutive, die Gesetze verletzen, zu korrigieren.
Ist Deutschland aber auch ein sozialer Rechtsstaat? Die Frage ist meiner Ansicht nach schwieriger zu beantworten, weil sie vielschichtig ist.
Die reine, pure, auf das absolute Minimum verknappte Definition des Sozialstaates ist, dass dieser Staat soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für die Menschen, die in seinen Grenzen leben, gewährleistet. Es ist wohl unstrittig, dass dies in Deutschland auf viele verschiedene Arten getan wird.
Das Problem ist meiner persönlichen Ansicht nach, die Umsetzung dieses in der Verfassung verankerten Prinzips in ihrer Gesamtheit - an vielen Ecken wird daran gearbeitet, dass der Sozialstaat zum Fall für den Rechtsstaat wird.
Da ist zunächst einmal dieser unglaubliche Berg aus Gesetzen, der kaum noch überschaubar ist, und der wiederum zur Schaffung von Institutionen geführt hat, die diese Gesetze mit Leben erfüllen sollen, Was darin resultiert, dass eine Behörde wie das Bundesversicherungsamt Gesetze interpretiert und damit die Grenze zwischen Exekutive und Judikative aufweicht: Die Rundschreiben des BVA sind keine Verwaltungsvorschriften, sondern veritable juristische Exegesen und Kommentare, die nur deshalb eine gewisse Aura mit sich bringen, weil sie unter behördlichem Siegel übersandt werden. An anderer Stelle hingegen werkeln Institution wie der Gemeinsame Bundesausschuss gleich ganz im stillen Kämmerlein - ohne dass die hier getroffenen Entscheidungen in irgendeiner Form transparent sind.
Womit ich bei den Krankenkassen selbst angekommen bin - ein Konstrukt, dass in seiner aktuellen Form für weitere Probleme sorgt, die dazu führen, dass der Sozialstaat zum Rechtsfall wird.
Die Politik wünscht sich Wettbewerb, sagt das halte die Leistungen gut und die Kosten gering. Das mag so sein; ich weiß es nicht. Aber sicher bin ich mir, dass dieser Wettbewerb dazu geführt hat, dass sich Krankenkassen, also Behörden, wie privatwirtschaftliche Unternehmen gerieren: Was zwangsläufig zu Problemen führt - die Verlockung, bei den Gutverdienern zu klotzen und ansonsten zu sparen, wo es geht, also gerne bei den Alten, den Kranken, aber auch dem eigenen Mitarbeiterstab, ist groß.
Da der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, eine Revisionseinrichtung zu schaffen, die zwischen Sozial- und Rechtsstaat geschaltet ist, sind dies dann zwangsläufig die Gerichte. Die dann wiederum ihre eigenen Gesetzesauslegungen produzieren, die dann wiederum von irgendwem auf ihren Grundsatzcharakter überprüft werden müssen. Um dann in die Arbeit der Krankenkassen einzufließen.
Problem: Es gibt 145 Krankenkassen. In jeder einzelnen davon sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Tag für Tag die neueste Gesetzeslage nicht nur kennen, sondern, und das ist das wirkliche Problem, auch verstehen, zumal, dass ist allerdings nur mein laienhafter Eindruck, das Streben nach Wirtschaftlichkeit bei manchen Kassen dazu geführt hat, dass Mitarbeiter beschäftigt werden, die nicht unbedingt über ein besonders großes Fachwissen verfügen. Eine große Krankenkasse kann dies vielleicht noch auffangen (wenn sie das will) - aber bei den kleinen und ganz kleinen Kassen gibt es diese Möglichkeit nicht. Das erzeugt weitere Fehler und weitere Gerichtsverfahren - denn wohin sollen sich die Betroffenen auch sonst wenden.
Wenn man nun berücksichtigt, dass diese Probleme nicht nur im Umfeld der Krankenkassen bestehen, sondern auch im Bereich des ALG II, dann sind lange Verfahrensdauern vor den Gerichten eigentlich nur eine logische Konsequenz. Eine tragische Konsequenz, wie ich persönlich denke.
Tragisch, weil die Fehler in der Umsetzung des Prinzips Sozialstaat dazu führen, dass es immer öfter (die Zahl der Verfahren hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen) auf das Prinzip Rechtsstaat tritt, zumal bei vielen Menschen in Deutschland sich der Automatismus ausgebildet hat, sofort vor Gericht zu ziehen - und dort auf eine Grenze stößt, weil der Rechtsstaat nicht darauf eingestellt ist: Weder personell, noch im Verfahrensrecht.
Das hat für den Bürger ganz konkrete Auswirkungen: Es führt zu langen, oft sehr langen Verfahrensdauern. Was darin resultiert, dass der Bürger, der zum Betroffenen wird, meist nur einen einzigen Schuss hat, bevor er sich geschlagen geben muss.
Denn wer, der Geld braucht, kann Monate, vielleicht Jahre darauf warten, dass das Sozialgericht das Hauptsacheverfahren eröffnet - und dann gar immer weiter, weiter, weiter vor Gericht streiten. Für die meisten ist die Einstweilige Anordnung wohl die letzte Instanz vor dem Absturz: die Miete will jetzt bezahlt werden, und die Kinder wollen auch jetzt essen - und eben nicht erst in 18 Monaten oder so. Wobei ich die 18 Monate gerade erfunden habe.
Das weiß jede Rechtsabteilung, nicht nur bei einer Krankenkasse: Dort sitzen Leute, die dazu ausgebildet sind, zu gewinnen. Man wird dafür bezahlt. Zu Hause sitzt jemand, der in der Zeit nicht bezahlt wird, jedenfalls nicht von der Krankenkasse, wenn es ums krankengeld geht. Sobald die Sache in der Rechtsabteilung gelandet ist, entwickelt eine Sache also eine ganz eigene Dynamik, und man kann als Betroffener nur darauf hoffen, dass der Richter, der den Antrag auf Einstweilige Anordnung auf dem Tisch hat, Verständnis hat - und die Rechtsabteilung der Krankenkasse gerade keine Lust zum Spielen hat. Denn ich habe auch schon gehört, dass Richter EAen mit der Begründung abgelehnt haben, es bestehe keine Dringlichkeit, weil der Kläger ja ALG beantragen könne.
Das waren nur ein paar Anmerkungen, die absolut nicht perfekt sind (und vor allem viel, viel zu lang) - ich bitte um Entschuldigung.
Ist Deutschland ein Sozialstaat - Ja
Ist Deutschland ein Rechtsstaat - Auch Ja.
Ist Deutschland ein sozialer Rechtsstaat - ich denke Nein.